13.04.2017

"Deutschland ist ein Land mit sehr großer Ungleichheit"

Ralf Krämer (ver.di) im Interview mit Haydar Gencer (Alevitische Gemeinde)

Von: Haydar Gencer
Ralf Krämer (ver.di) im Interview

Ralf Krämer (ver.di) im Interview

Haydar Gencer: Können Sie sich vorstellen?

Ralf Krämer: Mein Name ist Ralf Krämer. Ich arbeite seit 2002 beim Bundesvorstand der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft ver.di im Bereich Wirtschaftspolitik und bin in dieser Funktion aktiv im Bündnis „Reichtum umverteilen - ein gerechtes Land für alle!“.

Gencer: Können Sie das Bündnis „Reichtum umverteilen“ vorstellen?

Krämer: Das Bündnis „Reichtum umverteilen – ein gerechtes Land für alle“ hat sich 2016 gegründet, um im Vorfeld der Bundestagswahl 2017 und darüber hinaus gemeinsam Öffentlichkeitsarbeit und Druck für mehr soziale Gerechtigkeit zu machen. Es knüpft an früheren Bündnisaktivitäten für „Umfairteilen“ in den Jahren 2012 bis 2014 an und setzt sich aus mittlerweile 30 Organisationen und vielen weiteren Unterstützern zusammen: Gewerkschaften, Verbände und Selbstorganisationen aus dem sozialen Bereich, Jugendverbände, kirchliche und politische Vereinigungen, migrantische Organisationen und andere.

Der Aufruf auf www.reichtum-umverteilen.de nennt die zentralen Anliegen: Dies ist ein reiches Land, wir können mehr Gerechtigkeit und ein besseres Leben für alle schaffen. Doch Ungleichheit und Ungerechtigkeit haben zugenommen, öffentliche und soziale Leistungen wurden verschlechtert. Wir brauchen eine andere, gerechtere Politik und als einen zentralen Punkt mehr Steuergerechtigkeit. Dafür wollen wir im Laufe des Jahres Materialien erstellen und verteilen, bei Veranstaltungen präsent sein, Öffentlichkeitsarbeit machen, Unterstützung sammeln und mobilisieren.

Gencer: Wie sehen die Armut-Reichtum-Verhältnisse in Deutschland aus?

Krämer: Deutschland ist ein Land mit sehr großer Ungleichheit. Am krassesten zeigt sich das bei den Vermögen. Das reichsten Hundertstel hat fast ein Zehntel der Bruttoeinkommen und ihm gehören etwa ein Drittel aller Vermögenswerte. Die ärmere Hälfte hat weniger als ein Viertel der Einkommen und praktisch nur Gebrauchsvermögen, kein Finanz- oder Immobilienvermögen, viele haben mehr Schulden als Vermögen. Das Armutsrisiko ist in den vergangenen 20 Jahren von etwa 11 auf 16 Prozent der Bevölkerung gestiegen. Ein Fünftel der Beschäftigten, fast acht Millionen, bekommen nur Niedriglöhne von unter zehn Euro pro Stunde. Während diese Menschen in den letzten 20 Jahren reale Einkommenseinbußen hatten, stiegen die höheren Einkommen real um ein Viertel an. Die Gewinne der Kapitalgesellschaften stiegen preisbereinigt um mehr als die Hälfte.

Gencer: Was können Sie uns über die Situation von ärmeren Migranten sagen?

Krämer: Menschen mit Migrationshintergrund sind weit überdurchschnittlich von Armut betroffen, ihre Armutsrisikoquote ist mehr als doppelt so hoch wie im Durchschnitt der Bevölkerung. Überdurchschnittlich betroffen sind davon wiederum Personen, deren Migrationsherkunft außerhalb der EU liegt, dazu gehört auch die Türkei. Und besonders hoch ist das Armutsrisiko bei Menschen, die weiterhin Ausländer sind, also keine deutsche Staatsbürgerschaft haben. Die Bildungs- und Arbeitsmarktchancen eingewanderter Menschen sind schlechter, die Arbeitslosigkeit ist erheblich höher, die durchschnittlichen Einkommen sind deutlich niedriger, die Wohnsituation ist schlechter als bei der deutschstämmigen Bevölkerung. Besonders schlecht ist die Lage neu zugewanderter Menschen und vor allem von Flüchtlingen. Es wird noch viele Jahre dauern und erhebliche Anstrengungen erfordern um eine fortschreitende Integration und Verbesserung der Lebensverhältnisse zu erreichen.

Gencer: Was sind Ihre Forderungen an die Politik bzw. die Regierung und an die Bevölkerung?

Krämer: Wir fordern eine neue, gerechtere Politik: eine bessere soziale Absicherung aller Menschen, mehr öffentliche Investitionen und mehr Personal für bessere Bildung, Gesundheitswesen und Pflege und andere soziale Dienstleistungen, einen sozial verträglichen ökologischen Umbau, ausreichend bezahlbare Wohnungen.

Dazu brauchen die öffentlichen Hände mehr Geld, v.a. die Städte mit hoher Arbeitslosigkeit und Verschuldung. Deshalb brauchen wir eine gerechtere Steuerpolitik. Reiche, Personen mit hohen Einkommen sowie finanzstarke Unternehmen können und müssen mehr beitragen. Es muss endlich wieder eine Vermögensteuer auf Millionenvermögen erhoben werden und auch die Erbschaften der Superreichen müssen kräftig besteuert werden. Das würde zig Milliarden Euro Mehreinnahmen bringen und dafür sorgen, dass die Ungleichheit abgebaut wird.

Die Parteien, Parlamente und Regierungen brauchen Druck aus der Bevölkerung, damit in diese Richtung etwas passiert. In den letzten Jahrzehnten ist es der finanzstarken Lobby der Reichen erfolgreich gelungen eine Politik für ihre Interessen durchzusetzen, egal ob CDU/CSU, SPD oder Grüne regierten. Dem müssen wir etwas entgegensetzen. Wir wollen die Menschen ermutigen, sich für solche Forderungen, für eine Umverteilung des Reichtums von den Multimillionären zu den Millionen einzusetzen. Das muss eine zentrale Forderung sein, im Wahlkampf, in den Parteien und Organisationen, in den Medien. Und als Gewerkschafter füge ich hinzu: ein ganz wichtiger Punkt ist auch, dass die Beschäftigten sich besser organisieren, in den Gewerkschaften, und wieder einen größeren Anteil am Wohlstandskuchen für ihre Löhne erkämpfen.

Download Beitrag von Haydar Gencer auf Türkisch


Kommentare (0)

Keine Kommentare gefunden!

Neuen Kommentar schreiben